Klaus FINKEL (1940-1980)
Musical Play for Psychos
ELEMENTARES MUSIKTHEATER BEI EMOTIONALEN STÖRUNGEN UND PSYCHOSEN
(1980)
1. Elementares Musiktheater als interaktionspädagogisches Trainingsfeld
Mit den Mitteln von Spiel und Interaktion einschließlich der musikalischen Gruppen wie auch der Bewegungsimprovisation arbeitet das Elementare Musik- und Aktionstheater. In ihm wirken musikalische, sprachliche, pantomimische, bewegungsmäßige, tänzerische, bildnerische, materiale und Lichteffekte unter einer Themenstellung kooperativ zusammen.
Elementares Musiktheater will individuelles und soziales Verhalten steigern, kognitive, affektive, kreative und soziale Fähigkeiten mit Hilfe mehrmedialer Handlungsmodelle, die den musikalischen Aspekt betonen, wecken und fördern und die Mitglieder einer Gruppe befähigen, sich ihrer Ausdruckmöglichkeiten zu bedienen und diese auszubauen.
Dies kann sowohl durch Mimik, Gestik, Bewegung, Stimme und Sprache geschehen, als auch durch Zuhilfenahme verschiedener Mittel und Geräte (Instrumente jeglicher Art, Geräusch- und Schallerzeuger, apparative Schallerzeuger, technische Geräte u.ä.m.). Jegliche Stimulanzen sind möglich, die zum Akt der Darstellung beitragen. Sie können in Verbindung von Elementen des überlieferten und improvisierten Singens mit solchen der Bewegung (vom schlichten Gebärdenspiel über den Tanz zur szenischen und pantomimischen Darstellung eines Textinhaltes) eingebracht werden, aber auch als akustische Ausdeutung von Inhalten, Abläufen, Gefühlen und Stimmungen sowie rhythmische Sprachgestaltung einschließlich deren Verzerrung.
Elementares Musik- und Aktionstheater arbeitet weniger produkt -als prozeßorientiert, steuert sich also gruppenspezifisch im Grundsätzlichen selbst, wobei sich dabei eine experimentell ausgerichtete gestalterische Aktion darstellt, die nicht Selbstzweck, sondern Mittel ist, gleichermaßen Leistungsfähigkeit und Verhaltensweisen sozialpädagogischer Klientel zu fördern.
Der Begriff "elementar" ist absolut nicht synonym zu verwenden mit einfach" oder "simpel", sondern versteht sich hier vorrangig als "grundsätzlich", "entscheidend" und "exemplarisch". Ihm liegt der Klafki'sche Gedanke des Fundamentalen und Elementaren zugrunde.
"Der Begriff des Fundamentalen meint die Prinzipien, Kategorien, Grunderfahrungen, die einen geistigen Bereich konstituieren ..... Elementaria heißen die innerhalb solcher Grundbereiche auftretenden entscheidenden Inhalte und Zusammenhänge" (Klafki in Päd. Lexikon, Stuttgart 1961, S. 191).
Im Elementaren Musik -und Aktionstheater korrelieren also mit den Fundamentalia Hören -Singen - Tanzen - Spielen als Elementaria die Beziehungskomplexe Musik und Sprache, Musik und Bewegung, Musik und Instrument, Musik und Stimme, Musik und Material, Musik und Licht und schließlich Musik und Form. Die einander durchdringenden Zusammenhänge werden schnell deutlich, sie stellen letztlich den eigentlichen Reiz des Elementaren Musik- und Aktionstheaters dar.
2. Trainings- und Zielbereiche
Von der Entscheidung für ein interaktionspädagogisches Verfahren ist natürlich die gesamte Frage nach den Zielen in äußerst starkem Maße abhängig. Die gruppendynamische Orientierung erfordert ein spezi-fisches Verhalten und dessen Training. So gesehen beinhaltet eine Arbeit mit Musik im geschilderten Rahmen Verhaltenstraining in mehr-facher Hinsicht, nämlich ein wahrnehmungsorientiertes Verhaltenstraining, sozial-integratives Verhaltenstraining, grobmotorisches gesamtkörperorientiertes Verhaltenstraining und ein multisensoriell orientiertes Verhaltenstraining, das eine allgemeine Sensibilisierung auf das
- soziale Umfeld,
verstanden im Sinne von "ich und die Menschen um mich herum"
(hier finden neben den anderen Medien vorrangig Spiel und Darstellendes Spiel ihren Niederschlag),
- akustische Umfeld,
verstanden im Sinne von "ich und die Geräusche, Klänge und
Töne um mich herum" (hier finden neben den anderen Medien vorrangig Musik, Rhythmik und Sprache ihren Niederschlag) und das
- räumliche Umfeld,
verstanden im Sinne von "ich und der Raum und die Gegenstände im Raum um mich herum" (hier finden neben anderen Medien vorrangig Bewegung, bildnerisches und formendes Gestalten ihren Niederschlag) mit sich bringt.
Das Wahrnehmungsvermögen soll zum Differenzierungs-vermögen führen. Zusammen mit dem Lernen im Spiel, sich mit dem Oder den anderen Menschen in der Umgebung zu identifizieren und der Stabilisierung von Vertrauen, wird dassoziale Verhalten der mit den im Elementaren Musiktheater enthaltenen Materialien Konfrontierten angestrebt. Daneben kann auch das Training des Konzentrationsver-mögens auf einzelne Reize und Impulsfolgen zur Verbesserung des kognitiven Lernens bei den Adressaten führen.
Folgende spezifische Trainingsebenen kristallisieren sich dabei heraus:
- Sozial-integratives Verhalten, verstanden als Synthese zwischen Anpassung und Durchsetzung aus-schließlich eigener Interessen, hervorgerufen durch Angebote innerhalb eines Spielprozesses, die es dem einzelnen ermöglichen,sich mehr und mehr in einer Gruppe und Gemeinschaft bewegen zu können. Aktions-Reaktions-Training, verstanden als (durchaus nicht selbstverständlich vorauszusetzendes' eigenes Angebot im Spielprozeß an ein Gruppenmitglied oder die Gruppe an sich, die Erwartung einer Erwiderung, also einer Reaktion der Hinwendung zum Partner und schließlich der Reaktion selbst. Steigerung der Konzentrationsfähigkeit, verstanden als das Achten auf einzelne Reize, also auf Aktionen anderer und die schnelle Entscheidung darüber, solche Impulse aufzugreifen und weiterzuführen, also zu reagieren. Behutsamkeits- und Geschicklichkeitstraining, verstanden als Handlungsmaxime auf physischer Ebene (fein- und grobmotorische Fähigkeiten und Möglichkeiten), aber auch psychische Ebene (adäquates zwischenmenschliches Begegnen). Simultan- und Gesamtkörperkoordination, verstanden als Training von Teilbewegungsabläufen für Fein- und Grobmotorik und Koordination von Bewegungen, die gleichzeitig zu einem äußeren (z.B. akustischen und/oder visuellen) Ereignis ab-laufen resp. von diesem bestimmt werden.
- Vertrauensstabilisierung, verstanden als das Erkennen eigener Fähigkeiten und Möglichkeiten im Rahmen partnerschaftlichen Verhaltens und echter kooperativer Arbeit.
- Wahrnehmungserziehung, verstanden im Sinne Hartmut von Hentigs als das bewußte Aufnehmen ästhetischer und sozialer Prozesse mit Hilfe aller Sinne, dessen Verarbeiten dann zu einem Differenzierungsvermögen führt.
Toleranztraining, verstanden als positive Erfahrung von "So-sein" und "Anders-sein" sowie den darin schlummernden Möglichkeiten sowohl auf der personalen als auch auf der materialen Ebene.
Auf Basisziele (i.S. einer Konkretisierung dieser Trainingsebenen) und die sich daraus wiederum ergebenden 5 Arten von Teilzielen (soziale, kreative, emotional-affektive, kognitive und fachspezifische Ziele) einzugehen, würde sicherlich hier zu weit führen. Wichtig scheint mir nur noch festzuhalten: Wenngleich die Reihung der Trainingsebenen und die der Teilzielarten subjektiv als solche verstanden werden will, so sind die Ebenen und Arten aber doch funktional aufeinander bezogen, also gleichgewichtig und integriert - wenn auch jeweils schwerpunktartig akzentuiert - zu verfolgen.
3. Methodisch-gruppendynamische Akzente
Es ist unbedingt überlegenswert, inwieweit innerhalb der therapeutisch-pädagogischen Arbeit einer neuen Gruppe bzw. dem einzelnen Gruppenmitglied der Einstieg in gruppendynamische Prozesse durch individualisierende Medien erleichtert werden kann. Etwas vereinfachend eingeteilt, läßt sich feststellen, daß die Gestaltung mit bildnerischen Mitteln eine extrem individualisierende Wirkung
hervorruft, die den einzelnen Teilnehmer auf sich selbst ausrichtet (gruppendynamische Stufe "Ich mit mir"). Die Bewegungsebene weist schon deutlicher auf sozialisierende Wirkung hin: hier kann (muß nicht) der andere mich in meiner Bewegung erleben (oder ich ihn) und sich ihr anschließen. Deutlich sozialisierende Wirkung hat die instrumentale Spielebene. Hier kann sich keiner den akustischen Reizen entziehen, die auf einem Instrument abgegeben werden - gleich ob diese Reize ihn stören oder nicht. Die stimmliche, dann die sprachliche Spielebene sind mediale Aktionsebenen, die immer stärker das sozialisierende Moment betonen. Am deutlichsten steht schließlich die Berührungsebene mit dieser Wirkung da. Entsprechend dieser Wirkungen, die das einzelne Ich zur Erfahrung zunächst mit sich, dann mit dem anderen, dann mit mehreren und im "Widerstandslernen" gegen einen anderen, gegen mehrere andere führen, sollte die Auswahl der medialen Ebenen erfolgen. Dies gilt nicht nur für den gesamten übergeordneten Medienverbund, sondern für jedes einzelne darin enthaltene Element. Auch im Element Musik sollte man beispielsweise versuchen, von einer möglichst individualisierenden Phase auszugehen im Sinne von Instrument aushorchen - allein spielen -Partner suchen instrumentalen Dialog halten - Führen und Folgen mit Instrumenten - mit einer anderen Achse in Kontakt treten -im Ensemble spielen - gemeinsam etwas Größeres produzieren -eine Aktion gestalten.
Ein ausgewogenes Verhältnis zwischen individualisierenden und sozialisierenden Medien sollte nicht zuletzt auch im Interesse der Gruppenmitglieder selber das Angebot an die Gruppe bestimmen. (Macht ein Spieler zentral nur in einem Bereich, dem der Bewegung o.ä. Erfahrungen, versagt er sich selbst die Erfahrungen des anderen Bereichs. Hier hilft Aufmerksammachen als sanftes Gegensteuern.) zur Frage der Gewichtung der Medien gehört auch der Hinweis, daß bei gleichzeitigem Angebot mehrerer Materialien (Malutensilien, Musikinstrumente usw.) deren unterschiedliche Reizstärke auf den einzelnen wirken und ihn zur Entscheidung bringen soll, was er spielen will. Nicht der Gruppenleiter schlägt dem Spieler vor, womit er gestaltet, sondern die mehr oder weniger starken Appellwerte des Materials entscheiden darüber. Diese Appellspektrumsanalyse bedeutet fÜr den Gruppenleiter, beobachten zu können, welcher Gruppenteilnehmer vorzugsweise welches Material wählt. Erst wenn der einzelne an ein Material fixiert handelt, ist eine Gegensteuerung nötig.
Zur Frage inhaltlicher Gewichtung gehört notwendigerweise auf der Ebene des Spiels auch die Gewichtung von Regelspiel- und Freiraumspielphasen. Stellt sich ein Spielprozeß dar als die Gestaltung einer gemeinsamen Verabredung, so muß er sich in gewisser Weise bestimmten Regeln unterwerfen, ohne daß das improvisatorische Moment in einzelnen Phasen des Spiels zu kurz zu kommen braucht. Hier können bestimmte Verhaltensweisen dabei gut eingeübt werden. Wird ein Spiel nur durch einen Impuls, eine Assoziation, ein Reizwort 0.a. ausgelöst und frei improvisierend entwickelt, bringt es natürlich großen Raum zur Selbstdarstellung, Selbstverwirklichung und Selbstfindung oder zur (unbewußten) Darstellung von eigenen Störungen und Defiziten. Solche Regel- und Freiraumphasen sollten von den Spielern gleichmäßig erfahren und erlebt werden (können), nicht zuletzt auch unter dem Gesichtspunkt einer therapierenden Aufgabe des Gruppenleiters, der seine Beobachtungen in die Gesprächsaufbereitung des Spielprozesses einfließen und sie mit den Klienten gemeinsam verarbeiten lassen kann.
Diese gleichmäßige Gewichtung von Regel- und Freiraumphasen ist häufig auch ein Problem der Rollenerfahrung. Nicht nur frei zu gestaltende Rollen müssen von reglementierten abgelöst werden und umgekehrt, sondern auch positiv gesehene von negativ belasteten und umgekehrt. Strikter Rollentausch ermöglicht erst die Erfahrung mehrerer Spielebenen. Diese letztere allerdings wird auch zusätzlich noch durch Kontraste innerhalb der Spielprozesse erreicht. Immer dieselbe Reizebene ermüdet und führt zu Spielunlust. Im Gestaltungsprozeß sollten also unbedingt motorisch bewegte mit konzentrativ ruhigen, instrumentale mit vokalen, verbale mit nonverbalen Phasen u.ä.m. einander ablösen. Kontraste unterbinden die zur Reizabschwächung führende Reizüberflutung und ermöglichen dadurch ein intensiveres Reizerleben.
Plenumsarbeit birgt oft die Gefahr in sich, daß Regieanweisung oder Gesprächsmodell zentralisierend auf den Gruppenleiter abzielen. Wir bevorzugen daher die Kleingruppen- und Partnerarbeit zentral als Ausgangspunkt für die Gestaltung mehrmedialer Spiele.
Wenn die Gesamtgruppe sich ein Thema stellt und die Verteilung deutlich ist, wer z.B. die akustische Untermalung mit Instrumenten, wer die Bewegung und wer die Tonbandaufnahme steuern will, dann teilen wir uns für die weietere Erarbeitung und Differenzierung in Kleingruppen auf.
Insgesamt gesehen hat sich auch (oder evtl. gar gerade?) in der Arbeit mit Patienten ein Arbeitsstil, der diese als Partner akzeptiert, als recht gangbar erwiesen. Sein emanzipatorischer Effekt zeigt eine überraschende Langzeitwirkung, kurzfristige Erfolge allerdings sind mit ihm wohl kaum möglich. Er gliedert sich zunächst in zehn Einzelschritte:
- Die Gruppe lernt sich für den Spielprozeß (besser) kennen.
- Die Gruppe bespricht Thema und Arbeitsprozeß.
- Die Gruppe macht Vorschläge und sammelt Material (brainstorming--Phase).
- Die Gruppe probiert das gesammelte Material durch.
- Die Gruppe entscheidet sich für bestimmte Materialien.
- Die Gruppe verteilt die Rollen und trennt sich in diverse Klein-gruppen.
- Die Kleingruppen üben experimentierend (Trainingsphase).
- Die Kleingruppen bringen ihr gestaltetes Material in das Plenum ein (Demonstrationsphase).
- Die Gruppe bespricht den Prozeß (feed-back-Phase).
Es ist nicht nur wichtig, für die Spiele die Regel aufzustellen "Wenn wir spielen, sprechen wir nicht, und wenn wir sprechen, spielen wir nicht", es ist auch die Gewichtung beider Anteile wichtig. Wir betrachten das Gespräch zu dem absolvierten Spiel und über das Spiel als Bestandteil des Spieles selbst. Hier sollen im Rundgespräch die Erfahrungen in den verschiedenen Rollen ausgetauscht, relativiert und ausgeweitet werden können durch gegenseitige Information "wie war's bei mir". Abgesehen von dem Vorteil, hier Sprachausdruck, Sprechbereitschaft und -freudigkeit trainieren zu können, besteht nur im Gespräch die Möglichkeit, sich über kreuz und quer feedback geben zu können: Wie war ich, sag es mir. Ich sag Dir, wie Du auf mich wirktest.
4. Die Klientel und die Arbeit mit ihr
Die Gruppe, von der hier berichtet werden soll, besteht aus 8 Jugendlichen im Alter von 11 bis 18 Jahren. Sie fallen durch hohe Aggressivität, destruktives Verhalten, depressive Zustände und Suicidgefahr auf, 3 Mädchen sind überdies noch geistigbehindert. Aufgrund "hochgradiger Verhaltensstörungen" wurden sie in die kinder- und jugendpsychiatrische Abteilung eingeliefert, wo sie über längere Zeiträume stationär behandelt werden. Im Rahmen eines Breitbandtherapieprogramms haben auch musiktherapeutische- Sitzungen einen starken Stellenwert.
Letztere arbeiteten zunächst auf der Ebene eines Interäktionstrainings, bei der es um die Aufweichung erstarrter Verhaltensmuster sowie um Entwicklung und Ausbildung neuer Fähigkeiten der Interaktion (unfreezing) geht, mit musikalischer Gruppenimprovisation, die letztlich einfache Spiele mit Musik beinhaltete. Nach dieser quasi Vorstufe wurden auf der Ebene eines Gruppendynamischen Trainings, bei der eine durch unfreezing und feedback gestützte Selbsterfahrung im Spiegel der anderen vorherrschte, musikalische Interaktionen durchgeführt. Bei diesen werden Instrumente mit ihren Ausdrucks- und Gestaltungsmöglichkeiten konsequent als Mittel nonverbaler Kommunikation ge- und benutzt. Dies geschieht beispielsweise in Dialogspielen, musikalischen Gesprächen, musikalischen Äußerungen emotionaler Befindlichkeiten, aber auch in thematisch gestalteten Improvisationen (wie z.B. Wind und Blätter, Boot im Sturm u.ä.m.) und in assoziativen Improvisationen (wie z.B. Geburtstag, Familienstreit, Freundschaft u.ä.m.).
Den Schritt zum Akustischen Rollenspiel vollzog die Gruppe dann von selbst. Hier werden Situationen einzig mit musikalischen Mitteln und verteilten Rollen dargestellt, das musikalische Material wird abgeleitet von den Gefühlen, die bei diesen Interaktions- und Kommunikationssituationen im Spiele sind. Pantomimische und szenische Darstellung fließt beinahe von selbst mit ein. Das akustische Rollenspiel spielt sich auf der Ebene der Rollenspieltechniken ab, die als Problemlösungsmethoden anzusehen sind. Hier werden konkrete Verhaltensweisen für tatsächlich bestehende Situationen ebenso trainiert wie für zu erwartende (oder zu befürchtende).
Der im folgenden zu schildernde "Fall Peter" (vgl. Reissenberger 1980) macht deutlich, daß vom akustischen Rollenspiel zum musikalisch erweiterten Psychodrama in der Tat kein weiter Weg mehr ist. Diese Psychoanalytische Gewichtung floß hier in ein szenisches Spiel mit Musik, Bewegung, Pantomime und Sprache ein, das alle Kriterien des Elementaren Musiktheaters erfüllte und aufgrund dessen für den Patienten nicht den Anschein psychiatrisch-ärztlicher Behandlung hatte und daher unverkrampfter im Spiel ausgelebt wurde.
5. Die musikalisch-szenische Bearbeitung Zur Musik:
Die musikalische Gestaltung soll die hinter dem gesprochenen Inhalt stehende Stimmung besser erfassen helfen. Außerdem dient die Musik der formalen Gliederung des Stoffes und hilft die Szenenwechsel zu überbrücken. Das Wichtigste für die Dynamik unserer Gruppe war, daß gerade die musikalischen Anteile des Stücken die Stellen waren, wo alle - auch die geistigbehinderten Mädchen - in gleicher Weise mitspielen konnten. Nach längeren Dialogen o.a. Stellen, wo nur Einzelne hervortraten, spielten und sangen wieder alle zusammen.
Folgende musikalischen Formen wurden verwendet:
1. Instrumentale und vokale Improvisation:
- eine "Dracula-Munik", die als Einleitung und immer wenn Dracula auftritt, symbolisierend eingesetzt wird. Eine geisterähnliche Musik, die um das Wort Dra-cu-la entstand.
Wir verwenden: Becken, Pauke, Metallophon, einen ausgebauten Klavierrahmen und unsere Stimmen als Instrumentarium. Die 12 UhrSchläge auf dem großen Becken werden bei der Verkleidung und vor dem Erscheinen Draculas hinzugenommen,
- eine "Angst-Musik", die immer wenn Leute vor Dracula flüchteten, gespielt wird. Ausgedrückt durch ein möglichst rasches rauf- und runterspielen aller diaton. und chromatischen Töne der Stabspiele
unter Hinzunahme einer ungestimmten Zither,
eine "Wind-Musik", als Unterstützung für das Wetterleuchten bei Draculas Erscheinen auf dem Friedhof. Ein Schallspiel mit Zugflöten, Flötenköpfen, geriebenen Fellen, stimmlichen Lauten, Rasseln und Schellentrommel,
- unterstützende Geräusche und akustische Effekte im Sinne eines Hörspiels (Sirenen der Polizeiautos, Türklingeln, Stuhlrücken, Bettknarren, Feuer, Schritt- und Laufgeräusche u.ä.m.).
Die Länge dieser Schallspiele wurde vom Geschehen auf der Bühne bestimmt. Anliegen war es nicht, die Länge musikalisch festzulegen, sondern die Kinder sollten sich auf das Spiel der Darsteller einstellen und dieses begleiten.
2. Rezitativ:
Alle Zwischentexte, die den Inhalt straffen helfen, werden von Peter singend erzählt, mit einem Gitarrenakkord begleitet und von allen mit einem gesungenen Refrain ein- und ausgeleitet.
3. Lied:
Bei bestimmten Szenen (Busfahrt, Schulhof, Jugendherberge, Einschlafen, nächtliche Stadt etc.) sang die Gruppe bekannte Lieder zur Illustration einer Situation und erfand am Ende des Stückes selbst ein Schlußlied.
Zur Bewegung:
Folgende Formen wurden verwendet
1. Gestik, Mimik, Pantomime
2. Personen-Schattenspiel
Gestik und Mimik sollten sich aus dem Beteiligt sein der Kinder
Ergeben und möglichst nicht einstudiert werden. Je echter und wohler sich jemand in seiner Rolle fühlt, je stimmiger wird sein mimischgestischer Ausdruck sein. Die Überfälle, die "Dracula" machte, waren ein großes Problem, da sie immer eine fast ernsthafte Prügelei zwischen den Kindern auslösten, bis die Idee geboren wurde, ein Schattenspiel einzuschalten. (Hinter mehreren quer durch den Raum gespannten, von rückwärts angestrahlten Bettlaken bewegen sich die Spieler lautlos in Lebensgröße.) So mühten sich die Jungen ab, sich mit großen und langsamen Bewegungen zu überwältigen, was ein riesiger Erfolg ihrer sonst So ungesteuerten, haltlosen Aggression war.
Zur Sprache:
Folgende Formen wurden verwendet:
1. freie und festgelegte Dialoge
2. chorisches Sprechen und Ausrufe
Peter selbst hat einen Sprachfehler, ist aber in seiner verbalen Ausdrucksfähigkeit dadurch nicht behindert. Er, wie auch zwei weitere Kinder der Gruppe, kann ohne Festlegung den genauen Wortlautes mit jemandem einen Dialog führen, so daß an vielen Stellen nur der äußere Rahmen, ein fixierter Szenenablauf, festgelegt war. Den geistigbehinderten Mädchen fiel es schon schwerer und sie nahmen solche Rollen, die meist nur einen Satz zu sagen hatten: z.B. als Heimleiterin - die Begrüßung, als Busfahrer - "alles aussteigen" usw. Als Mittel, alles ins Geschehen einzubeziehen und um gemeinsame Tätigkeiten zu beschreiben, wurde chorisches Sprechen inhaltsbezogener, leicht zu skandierender Verse verwendet. Außerdem dienten Ausrufe, Schreie des Schreckens aus Angst vor "Dracula" als Ausdrucksmittel.
Zur Verkleidung und Dekoration:
Verkleidung, Dekoration und andere Utensilien beschränkten sich auf das Nötigste: ein selbst bemaltes Tuch mit flammenden Augen stellte Dracula in der Erscheinungsszene dar. Einige Schilder wurden zur
Kennzeichnung der Spielplätze gemalt. Um Umbauten zu ersparen, trug eines der geistigbehinderten Mädchen mit wichtiger Miene das Schild mit entsprechender Aufschrift über die Bühne - und schon war der Spielort verdeutlicht. Stühle dienten uns als Schulbänke, Busplätze, Schlafstätten, Gartenbänke, Wohnungseinrichtung, und es galt auch hier mit minimalen Hilfsmitteln auszukommen. Die eigentliche Verkleidung wurde ans Ende der Arbeit gestellt, um solange wie möglich an den individuellen, persönlichen Ausdrucksmöglichkeiten der Kinder zu arbeiten.
Schlussbemerkung
Nicht das Medium Musik, Bewegung oder Sprache stand im Mittelpunkt, sondern der Patient, der sich darin ausdrückt. In der therapeutischen Arbeit wird also Musiktheater nicht als Fachgebiet oder unter künstlerisch-ästhetischen Gesichtspunkten gesehen, sondern als persönliches Ausdrucksmittel, als Möglichkeit, sich selbst kennen zulernen und mit anderen Menschen in Beziehung zu treten.
Bei Peter bedeutete es einen großen Fortschritt, daß er Erlebnisse aus seinem eigenen Leben erzählte und die Gruppe durch das gemeinsame Spiel darüber in sein Leben einbezog. Anderen Kindern fällt es schwer, etwas so Direktes aus ihrem Leben zu schildern, sie brauchen Geschichten und Märchen, um in einer ,erdachten' Rolle etwas über sich auszusagen und mit anderen Menschen darüber zu sprechen. Da es erfahrungsgemäß sehr schwer ist, mit emotional gestörten Kindern über sie direkt ins Gespräch zu kommen, bieten gerade Musik und Theaterspiel gute Möglichkeiten, an ihr Erleben heranzukommen.
Peter konnte sich nach insgesamt 4 Monaten intensiver Beschäftigung mit seiner Draculageschichte von der Überzeugung, er sei Dracula, lösen. Er hatte erfahren, daß alle in der Gruppe ihn mit seinen Gedanken und Gefühlen nicht als pathologisch abgetan, sondern seine Vorstellungen ernst genommen hatten. Er hatte erlebt, daß er, auch ohne Dracula zu sein, mit uns zusammen spielen und arbeiten konnte. In den darauf folgenden Monaten kam er noch nach seiner Entlassung in unsere Gruppe und konnte auch bei den Geschichten anderer Kinder sich aktiv beteiligen.
Klaus Finkel ©1980 for Paul Timmermans / Muziekkrant
FINKEL K.: Elementares Musiktheater mit geistig behinderten Kindern, Staufen/Freiburg 1980.
FINKEL K.: Interaktionspädagogik und Musiktherapie, in: Tagungsbericht Orff-Symposion 1980, Salzburg, 1980.
DECKER-VOIGT H.H.: Erziehung und Therapie durch Musik, Bde 1-3, Lilienthal/Bremen 1975-1977.
FINKEL K. / DECKER-VOIGT H.H.: Gestaltungsprozesse in der pädagogischen und therapeutischen Praxis, Düsseldorf 1980.
REISSENBERGER K.: Musik, Bewegung und Sprache in der Therapie emotional gest¨rter Kinder und Jugendlicher, in: Tagungsbericht Orff- Symposion 1980, Salzburg 1980.
REISSENBERGER K.: Musiktherapie und Bewegungstherapie, in: Prax. Psychoth. 23/1978.
Tribute to Klaus Finkel 1980 © Original paper written for Paul Timmermans (Muziekkrant) never published before.
A few months later Klaus Finkel died.
FINKEL K.: Elementares Musiktheater mit geistig behinderten Kindern, Staufen/Freiburg 1980.
FINKEL K.: Interaktionspädagogik und Musiktherapie, in: Tagungsbericht Orff-Symposion 1980, Salzburg, 1980.
DECKER-VOIGT H.H.: Erziehung und Therapie durch Musik, Bde 1-3, Lilienthal/Bremen 1975-1977.
FINKEL K. / DECKER-VOIGT H.H.: Gestaltungsprozesse in der pädagogischen und therapeutischen Praxis, Düsseldorf 1980.
REISSENBERGER K.: Musik, Bewegung und Sprache in der Therapie emotional gest¨rter Kinder und Jugendlicher, in: Tagungsbericht Orff- Symposion 1980, Salzburg 1980.
REISSENBERGER K.: Musiktherapie und Bewegungstherapie, in: Prax. Psychoth. 23/1978.
Tribute to Klaus Finkel 1980 © Original paper written for Paul Timmermans (Muziekkrant) never published before.
A few months later Klaus Finkel died.